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Der Kollaps der unbesiegbaren, ruhmreichen vater­ländischen Armee

Noch vor einer Woche hielt man den Krieg in der Ukraine für ein blutiges Patt. Bis ein Gegen­angriff alles änderte.

Von Constantin Seibt (Text) und Sergiy Maidukov (Illustration), 17.09.2022

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Die zweite Verteidigungslinie der ukrainischen Armee verläuft derzeit bei der ostukrainischen Stadt Bachmut: Der Illustrator Sergiy Maidukov befindet sich dort und hält seine Eindrücke fest.    
Die zweite Verteidigungslinie der ukrainischen Armee verläuft derzeit bei der ostukrainischen Stadt Bachmut: Der Illustrator Sergiy Maidukov befindet sich dort und hält seine Eindrücke fest.

Wir haben gelernt, keine Angst zu haben. Jetzt bitten wir den Rest von Ihnen, keine Angst zu haben.

Oleksij Resnikow, Verteidigungs­minister der Ukraine.

Ende letzter Woche war es nur eine weitere Schlacht. Die ukrainische Armee hatte die Kleinstadt Balaklija angegriffen. Und die russischen Verteidiger eingekesselt, eine Einheit der National­garde. (Diese dient normalerweise als Militär­polizei, ist Putin direkt unterstellt und militärisch weitgehend unerfahren.)

Russische Kriegs­blogger waren besorgt, schrieben aber von heldenhaftem Widerstand der Verteidiger.

Und dann wurde sehr schnell Kriegs­geschichte geschrieben. Noch bevor die Nachrichten vom Fall Balaklijas kamen, waren am Freitag Meldungen erschienen von Gefechten 70 Kilometer weiter im Osten, am Rand von Kupjansk, dem zentralen Eisenbahn­knotenpunkt in der nordöstlichen Provinz Charkiw.

Man las, dass das eigentliche Ziel der Offensive die Stadt Isjum sei, 50 Kilometer im Süden von Balaklija gelegen. Isjum ist als Brücken­kopf am Donez-Fluss und auch wegen der Auto­bahn eine strategisch wichtige Stadt: Hier lässt sich der gesamte Nachschub von Waffen, Munition und Verpflegung in die Donbass-Region kontrollieren.

Isjum war das erste bedeutende Ziel der russischen Armee beim Einmarsch in den östlichen Teil der Ukraine gewesen: Hier schlug sie ihr Haupt­quartier auf. Seit der Besetzung war die Bevölkerungs­zahl von über 40’000 auf 12’000 gesunken, kaum ein Wohnhaus war unbeschädigt geblieben, die Lager aber waren vollgestapelt mit Munition und Waffen.

Prorussische Blogger schrieben, dass die Rück­eroberung von Isjum unmöglich sei. Die ukrainische Offensive würde wegen der Topografie und der russischen Feuerkraft in einem deprimierenden Massaker enden.

Damit endete der Freitag.

Am Samstagmorgen wehte über den Gleisen in Kupjansk die ukrainische Flagge – und ein paar Stunden später auch in Isjum. Der Grossteil der Besatzer hatte die Stadt per Last­wagen oder zu Fuss über die letzte intakte Brücke verlassen, aber dabei Tonnen an Militär­material hinterlassen.

Und so ging es das Wochenende über weiter. Es war, als würde derselbe Mensch alle paar Minuten im Lotto gewinnen. Jedes Mal, wenn man Twitter aktualisierte, war eine weitere Ortschaft befreit, ein weiterer russischer Panzer in die Luft gesprengt, verunfallt oder erobert, Kriegs­gefangene gemacht (darunter ein General) – und das in fast allen Himmels­richtungen: im Norden, Osten, Süden.

So zäh, bitter, blutig sie am Anfang kämpften, so nicht existent waren sie danach: Russische Einheiten flohen in Scharen auch aus ausgebauten Stellungen, noch bevor der erste ukrainische Soldat in Sicht war.

Die ganze Front kollabierte; was die russische Armee in Monaten erobert hatte, überrannten die Ukrainer in wenigen Stunden.

Ein Regierungs­berater sagte: «Wir machen so viele Gefangene, dass wir keinen Platz mehr für sie haben.» Und das ukrainische Verteidigungs­ministerium meldete, dass Russland «seine Stellung als wichtigster Sponsor der ukrainischen Streit­kräfte mit Militär­material» weiter ausgebaut habe.

Im Osten ist inzwischen die russische Grenze erreicht; im Süden kämpft die Ukraine aktuell vor Lyman, dem Einfallstor für die Region Donezk; erfahrene Offiziere sagten, das Problem sei im Moment, heraus­zufinden, wann man haltmachen solle.

Nicht zuletzt weil, wie der amerikanische General Mark Hertling warnte, «Erschöpfung Feiglinge aus uns allen macht». Und Offiziere nach 3 Tagen ohne Schlaf, Soldaten nach 5 anfangen, miserable Entscheidungen zu treffen.

In der Tat war Müdigkeit plötzlich der härtere Gegner als die vor 6 Monaten noch als unbesiegbar gefürchtete russische Armee, die teils in Zivil­kleidung, teils in langen Lastwagen­kolonnen Richtung russische Grenze floh.​

Kein Wunder, staunte der hartgesottene ukrainische Kriegs­reporter Illia Ponomarenko bereits am Samstag: «Das Charkiw-Wunder.»

Überraschung!

Gegen obige Darstellung protestierten mehrere. Der Militär­historiker Phillips O’Brien etwa widersprach: «Das ist das Resultat langer Planung und Vorbereitung seitens der Ukrainer und der exzellenten Ausführung ihrer Armee. Nichts ist hier ein Wunder.»

Und natürlich hat O’Brien recht.

Die Offensive ist ein brillanter Streich der ukrainischen Militär­führung. Den ganzen Sommer durch kündigten Präsident Selenski und andere Minister bei jeder Gelegenheit die Rück­eroberung von Cherson an, einer Millionen­stadt im Süden.

Damals wunderten sich viele, warum die Ukrainer das so offen sagten.

Das russische Kommando jedenfalls zog die besten Einheiten in Cherson zusammen – rund 30’000 Mann. Worauf das ukrainische Militär mit Präzisions­geschossen systematisch alle Brücken über den Dnipro zerstörte.

30’000 der besten russischen Soldaten sitzen nun dort in der Falle – in unvorteilhaftem Gelände, ohne ausreichende Versorgung, ohne Fluchtweg, in einem gnadenlosen Auslöschungs­kampf mit der ukrainischen Armee.

Das allein war eine bemerkens­werte Idee.

Noch brillanter war, dass das ukrainische Militär, ganz im Stillen, Soldaten und Material in den Norden verlagerte. Eine superschnelle Spezial­truppe mit bewaffneten Gelände­wagen baute. Und dann die ausgedünnte Front am schwächsten Punkt angriff.

Eigentlich war das eine logische Idee: Denn wegen der Weite der Ukraine ist die Front fast endlos – in West­europa würde sie von Polen bis Portugal reichen. Und Putin hatte bereits am 24. Februar mit einer unprofessionell kleinen Armee angegriffen: in der Erwartung eines dreitägigen Blitz­krieges.

Der Grund, warum der Überraschungs­angriff trotzdem eine Überraschung war, ist simpel. Den ganzen langen Sommer über hatte der Krieg ein ganz anderes Gesicht. Die russische Artillerie­armee bombte sich im Osten schwerfällig Kilometer um Kilometer vor. Und bezahlte jeden Kilometer mit schrecklichen Verlusten, attackiert von den schnelleren, langsam zurück­weichenden Ukrainern, deren Verluste ebenfalls schrecklich waren – nur kleiner.

Das Ganze war eine barbarische Abnützungs­schlacht. Der russische Vormarsch kam erst zu einem Halt, als die Ukrainer von den USA die ersten Himars erhielten – Artillerie­geschütze mit enormer Präzision und grosser Reichweite. Die Ukrainer konzentrierten sich sofort auf die Schwäche der Russen: die Logistik.

Sie bombardierten Transport­zentren, Brücken, Kommando­zentralen und Munitions­lager. Letztere lieferten Bilder furcht­erregender Feuer­werke. (Da die russische Propaganda nichts von ukrainischen Treffern wissen wollte, kamen sie meist mit dem ironischen Kommentar: «Rauchen ist tödlich!»)

Die Front verschob sich über Wochen kaum. Was eine Menge Experten zu dem Schluss brachte: Wir haben ein Patt.

Was der klassische Denk­fehler ist, wenn etwas stabil bleibt: Man extrapoliert. Doch eigentlich hätte man wissen müssen, dass die ukrainische Armee­spitze höchst ungewöhnlich ist. Denn in der Regel schaffen es grosse Organisationen zuverlässig, neugierige Köpfe auszusortieren. Mit einer Ausnahme: Nach Nieder­lage und Schande sind diese plötzlich gefragt.

Bei der russischen Invasion 2014 in der Krim und im Donbass wurde die ukrainische Armee, geführt von in der Sowjet­union ausgebildeten Offizieren, ohne nennenswerte Gegen­wehr zusammen­geschossen.

Danach kamen neue Leute – und mit ihnen eine neue Philosophie: Man setzte nicht mehr auf die starre Kommando­kette, sondern auf die Entscheidungen der Unteroffiziere vor Ort. Man traute ihnen zu, das Richtige zu tun.

Man hatte dafür traurig viel Training. An der Grenze der beiden von Russland kontrollierten Gebiete in den Provinzen Luhansk und Donezk schwelte seit 2014 ein permanenter Kleinkrieg mit mehr als 10’000 Toten.

Und auch im General­stab wurde neu gedacht. Schon weil die Armee lange wenig Geld hatte und dieses durch Ideen ersetzen musste. Was zu einer bemerkens­werten Anpassung an die Wirklichkeit führte, gerade dann, wenn die Lage am finstersten war:

  • Ohne grosses Budget verzichtete man auf Super-Hightech-Prestige­waffen. Und kaufte stattdessen unglamouröses Zeug, bedienbar von einem Mann: türkische Drohnen. Oder tragbare Anti-Panzer- und Anti-Flugzeug-Raketen. Diese erwiesen sich gegen die anrollenden russischen Kolonnen als verblüffend effektiv.

  • Obwohl weder von den Ukrainern noch von der Regierung noch der Armee­spitze eine Mehrheit an eine russische Invasion glaubte, war das Ober­kommando weise genug, in den Tagen davor Flug­zeuge, Helikopter, Kommando­posten und Munitions­depots zu verlegen: Die russischen Raketen trafen in der ersten Nacht leere Roll­bahnen, leere Kasernen und leere Zeug­häuser.

  • Beim Bekämpfen der russischen Artillerie war das Ziel nicht das Halten von Gelände um jeden Preis, sondern das systematische Ausradieren von so vielen Angreifern und so viel Material wie möglich.

  • Eigentlich gilt es als Risiko, mitten im Krieg neue Waffen­systeme einzuführen. Die Soldaten der Ukraine lernten verblüffend effizient gleich Dutzende davon. Nach dem Motto: «Danke für die Bedienungs­anleitung!»

  • Was nicht nur für die Soldaten, sondern auch die Armee­spitze spricht: Lieferungen aus 50 Ländern, die Kombination von veralteten sowjetischen und neuen westlichen Waffen­systemen – allein das ist ein superkomplexer logistischer Albtraum.

  • Nicht zuletzt: Die ukrainische Armee wurde zum Pionier fast nicht machohafter militärischer Propaganda: keine Paraden, keine Generäle, sondern Soldaten und Soldatinnen, die Katzen und Welpen retten, Gitarre spielen, von der Familie umarmt werden, Scherze machen und im Alleingang Panzer abschiessen.

Kein Wunder, studieren jetzt die Militär­profis rund um die Welt die ukrainische Kriegs­führung: Sie fand für bedrohliche Probleme neue Lösungen.

Mafia­armee

Die russische Armee ist ebenfalls reif fürs Lehrbuch – für eine Anthologie aller Varianten, wie man einen Krieg vermasselt. Primär dadurch, dass man den Krieg der Vergangenheit nochmals führt.

Putins Traum war die Wiederkehr von Stalins Roter Armee aus dem Zweiten Weltkrieg. Und er wurde wahr – dieselbe alles zerstörende Artillerie- und Panzer­walze, dieselbe diktatorische Kommando­struktur, dieselbe Gleichgültigkeit gegenüber Verlusten, egal ob an Menschen oder Material, dieselbe Grausamkeit, egal ob gegen Zivilisten oder die eigenen Soldaten.

Selbst der ursprüngliche 3-Tage-Blitz­krieg-Plan war pure Nostalgie: angelehnt an den Einmarsch der sowjetischen Panzer 1968 in der Tschecho­slowakei, um den Prager Frühling zu beenden.

Nur haben sich in den 77 Jahren dazwischen drei Dinge geändert:

  1. Stalins Sowjet­union war ein junges Bauern­land mit endlos vielen Soldaten. Putins Russland ist ein Land der Rentner.

  2. Mit einer 200’000-Dollar-Javelin-Rakete lassen sich millionenteure Panzer oder Helikopter erledigen.

  3. Die Sowjet­union konnte auf einen steten Strom von amerikanischem Militär­material zählen. Heute tut das die Ukraine.

Dazu kam, dass Putin wie früher Stalin ebenfalls persönlich bei der operativen Leitung seiner Armee eingriff.

Im Grunde hatten die russischen Generäle fast keine Chance: Der Bär fault vom Kopf her. Wie kann man erwarten, dass in einem durchregierten Mafia­staat ausgerechnet die Armee effizient funktionieren soll?

Die Korruption verursachte riesige Verluste – an Material, an Tempo, nicht zuletzt an Intelligenz. Panzer, Last­wagen, Munition waren miserabel gewartet, gestohlen oder existierten nur auf dem Papier, halbe Bataillone fanden sich nur in der Sold­buchhaltung, Tote, Verwundete, überhaupt schlechte Nachrichten werden extrem unzuverlässig gemeldet, damit nicht irgendein Idiot auf die Idee einer Untersuchung kommt.

Das russische System unter Putin besteht aus Gewalt, Dieb­stahl und Illusionen.

So wie auch die russische Armee und ihr Ober­befehls­haber. Sie leben in einer Papier­welt, gebastelt aus gefälschter Vergangenheit. Ihre Lebens­aufgabe ist die eigene Unbezwingbarkeit. Und finanziert wird das Ganze aus den Ölmilliarden.

Der Rest ist – vor allem Leere.

Bis heute bleibt sensationell unklar, was Putin und seine Generäle in der Ukraine tatsächlich erreichen wollen. Ausser ihre Vernichtung. Und warum? Selbst das bleibt neblig. Es hat etwas mit Grösse und früheren Imperien zu tun.

Was die Soldaten anbetrifft: Sie leben ebenfalls tief in der zaristischen, sowjetischen Tradition. Keiner von ihnen ist mehr wert als ein Sack Fleisch. Schon weil sie aus der Provinz sind: Aus dem Macht­zentrum Moskau steht so gut wie niemand an der Front.

Das Fussvolk der russischen Armee stammt seit jeher aus den armen asiatischen Provinzen. Aktuell sind für den Krieg gegen die Ukraine ganze Regimenter aus den von Russland besetzten Provinzen in die Ukraine gepresst worden. Früher noch durch Drohungen, heute durch Gewalt: Jungs, die ein Shampoo kaufen gingen und von der Militär­polizei verschleppt wurden. Dazu kämpfen Rekruten, die glaubten, was in ihrem Vertrag stand: dass sie während der Ausbildung nicht an die Front kämen.

Die professionellsten, grausamsten Soldaten stammen aus zwei Privat­armeen: die Tschetschenen von Ramsan Kadyrow, die vor allem hinter der Front Jagd auf Deserteure machen. Und die von «Putins Koch» Jewgeni Prigoschin bezahlten Söldner der sogenannten Wagner-Gruppe. Und neu haben dank Prigoschin auch Mörder und Räuber ihre Chance: Wer sechs Monate auf dem Schlacht­feld überlebt, bekommt seine Strafe erlassen.

Das Gros ist erbärmlich ausgestattet. Und erbärmlich ausgebildet. Ihre Funktion ist die eines menschlichen Test­streifens: die Front nach schwachen Stellen abzusuchen. Wo sie nicht erschossen werden, kann die Artillerie vorrücken.

Kein Wunder stehlen sie Wasch­maschinen. Kein Wunder, trinken, vergewaltigen und foltern sie. Es ist ihre Version von Diebstahl, Gewalt und Grösse.

Und kein Wunder, desertieren sie.

Die Seuche

Die Militär­geschichte weiss: Fahnen­flucht ist ansteckend wie eine Seuche. Nicht wenige Armeen endeten durch Massen­desertion: Guerilla­armeen wie die kolumbianische Farc, aber auch hochgerüstete, diszipliniert gehaltene Streit­kräfte wie die des Schahs im Iran.

Der Grund ist seit jeher derselbe – Napoleons berühmte Formel: Im Krieg schlägt Moral Material im Verhältnis zehn zu eins.

So im Sommer 2021 in Afghanistan. Die USA hatten 20 Jahre lang 83 Milliarden Dollar in den Aufbau einer regulären Armee gesteckt. Sie war weit zahlreicher und weit schwerer bewaffnet als die Taliban. Und doch brach sie in vier Wochen zusammen, so gut wie ohne Kampf.

Der Council on Foreign Relations nannte folgende Gründe:

  • Verrat: Seit der damalige Präsident Trump im Jahr zuvor einen Deal mit den Taliban über den Abzug getroffen hatte, war klar: Es ist vorbei.

  • Kein Vertrauen: Die USA hatten zuvor die afghanischen Kräfte mit Flugzeugen unterstützt. Ohne Luft­unterstützung sahen die Streit­kräfte keine Chance auf echte Kontrolle.

  • Korruption: Als man die offizielle Liste von 352’000 Soldaten und Polizisten mit realen Köpfen verglich, waren es nur noch 254’000. Die Differenz war von den Offizieren erfunden worden, um mehr Sold zu kassieren.

  • Kein Sinn: Der damalige Präsident Ashraf Ghani war ein höchst korrupter Clan­politiker.

  • Zermürbung: Während der Besetzung durch die USA waren über 60’000 afghanische Sicherheits­kräfte getötet worden.

Kurz: Als die Amerikaner gingen, wollte niemand seinen Kopf für die hoffnungslose Sache riskieren.

In Panik oder Depression spielt Hierarchie keine grosse Rolle mehr. Unter den flüchtenden russischen Soldaten war nicht nur Fussvolk. Darunter waren, laut britischem Geheim­dienst, auch die Elitesoldaten des 1. Panzerregiments, eigentlich zuständig für die Verteidigung Moskaus und gedacht als Speer­spitze bei einem Krieg gegen die Nato.

Nachdem die Ukrainer mehrere ihrer Panzer zerstört hatten, liessen sie den Rest zurück. «Es wird Jahre dauern, es wieder aufzubauen», schrieben die Briten.

Man kann viel darauf wetten, dass die bisherigen Desertionen nicht die letzten sind. Die Wahrscheinlichkeit der Ansteckung ist grösser als in früheren Kriegen. Aus einem simplen Grund: Handys. Es ist der erste grosse Krieg, in dem die Armee­spitze nicht die Informations­hoheit hat.

Vielleicht ist es schon passiert. Vielleicht nur Propaganda. Am Montag meldete das ukrainische Ober­kommando:

  • dass erste russische Truppen­teile im eingekesselten Cherson über Kapitulation verhandeln;

  • dass Russland momentan keine neuen Einheiten mehr in die Ukraine schickt. Und sich «Freiwillige» in Massen weigern, zu kämpfen.

Sollte sich das bewahrheiten, kann es sehr schnell gehen.

Die Sonne Moskaus

Während seine Soldaten flohen, weihte Präsident Putin in Moskau ein Riesen­rad ein, getauft: «Die Sonne Moskaus». Er sagte: «140 Meter. So etwas gibt es nicht in Europa.»

Russlands offizielle Medien brachten zur Katastrophe in der Ost­ukraine lange Zeit: nichts. Schliesslich sprachen sie von einem planmässigen Rückzug, zwecks «Regruppierung».

Die Nachrichten überliess man den Militär­bloggern – ultra­nationalistischen Nerds und Veteranen. Sie warfen dem Kreml «Schweigen bei schlechten Neuigkeiten» vor. Und forderten verzweifelt «die totale Mobilisierung». Der prominenteste unter ihnen, Igor Girkin – ein glühender Faschist, aber in Militär­dingen gnadenlos kompetent –, war am finstersten: «Der Krieg in der Ukraine wird bis zur totalen Niederlage weiter gehen. Wir haben schon verloren, der Rest ist nur eine Frage der Zeit.»

Weiter oben in der Hackordnung eröffnete der kremlnahe Star­moderator Wladimir Solowjow die Jagd nach Schuldigen: Er forderte, dass die militärisch Verantwortlichen für ihr Versagen vor ein Exekutions­kommando gestellt würden.

Kurz darauf wurde der für den westlichen Front­abschnitt verantwortliche General Berdnikow gefeuert. Nach nur 16 Tagen im Amt.

Am gleichen Tag sagte Putin ein Treffen mit seinen Generälen ab.

Im Netz kursierten Spekulationen, dass für diese Niederlage entweder Putin die Generäle oder die Generäle Putin ans Messer liefern würden.

Während zwei unbedeutende Lokal­parlamente in Moskau und Sankt Petersburg ein Schreiben an die Duma sandten mit der Bitte, Wladimir Putin wegen Hoch­verrats abzusetzen.

Während das Riesen­rad «die Sonne Moskaus» bereits am Sonntag wieder ausser Betrieb gesetzt wurde – «wegen Wartungs­arbeiten».

Und mehrere Lokal­parlamentarier Besuch von der Polizei erhielten.

Wonach am Montag in Solowjows Sendung erhitzte Debatten stiegen: Jemand verlangte, die Ukrainer und den Krieg endlich ernst zu nehmen (und deshalb als erste kleine Massnahme amerikanische Filme zu verbieten), andere antworteten, die Existenz der Ukrainer nur über die eigene Leiche anzuerkennen, Dritte stellten verblüfft fest, dass alles gerade Gesagte doch «nationalistisch» sei.

Was wirklich in Moskau passiert, weiss niemand.

Klar ist nur Folgendes:

  1. Das einzige Verbrechen eines autoritären Staats­chefs ist: die Nieder­lage. Und Putins Finger­abdrücke finden sich überall: die Planung, das Ober­kommando, sein Versprechen der Wiederkehr des Imperiums. Putins beste Karte ist, dass nirgends ein Nachfolger in Sicht ist, dafür überall schwache Leute. Doch Putins Strategie, Supermacht zu werden, ist weltweit sichtbar gescheitert. (Seine beste Option wäre laut Experten die Existenz als Junior­partner Chinas.) Kurz: Die Autorin Anne Applebaum hat recht, wenn sie im «Atlantic» die westliche Politik dazu aufruft, sich nun Gedanken über die Zeit nach Putin zu machen.

  2. Was nach Putin kommt, wird nicht freundlicher. Am besten fasste die bisherige Debatte der Geo­politik-Autor Bruno Maçães zusammen: «Die russische Gesellschaft sorgt sich um ihre Demütigung, nicht um Völker­mord.» Und: «Man kann die politische und militärische Führung wegen Inkompetenz und Verrat angreifen. Das ist möglich – aber nicht, um den Völker­mord anzuklagen, sondern um ihn besser zu organisieren.»

  3. Die russische Armee steht am Rand einer Nieder­lage. Der Coup der Ukrainer hat ihr zwei neue, potenziell tödliche Probleme verschafft. Erstens: Der Mythos der Unbesiegbarkeit ist weg. Bei den eigenen Leuten. Bei den Ukrainern und deren Verbündeten. Und sogar im eigenen Imperium: Ohne Respekt griff das mit der Türkei verbündete Aserbeidschan Russlands Verbündeten Armenien an. Zweitens: Die notorische Schwäche der russischen Invasions­armee ist ihre Logistik. Schon weil sie als Verteidigungs­armee konzipiert war: Ihre Haupt­lebenslinie ist die Eisenbahn. Und mit dem ukrainischen Vorstoss sind alle Eisenbahn­verbindungen für die russische Armee im Süden verloren: Der Nachschub ist gekappt.

(Und hier die beeindruckende Karte der ukrainischen Gebiets­gewinne von Freitag bis Montag.)

Das Problem ist: Auch für Russland wird eine Niederlage existenziell. Nichts stand so im Zentrum des nationalen Stolzes wie der Sieg der ruhmreichen vaterländischen Armee gegen Nazi­deutschland.

Wie es aussieht, hat Putins Nostalgie Russland nicht nur um die Zukunft gebracht. Sondern auch um die Vergangenheit.

Weltliche Wunder

Vielleicht hat der Militär­historiker Phillips O’Brien doch nicht recht, wenn er zur ukrainischen Offensive analysiert: kein Wunder. Und dass ihr Erfolg aus Planung, Training, exzellenter Ausführung bestehe.

Vielleicht trifft es Paul Krugman besser, wenn er die militärische Variante von Dornbuschs Gesetz an der Arbeit sieht: «Eine unvermeidliche Veränderung braucht weit länger, als sich irgendwer vorstellt, vollzieht sich aber weit schneller, als sich irgendwer vorstellt.»

Das, weil die Balance sich schon den ganzen Sommer hindurch verschob: Russland hat seine Reserven verpulvert, die Ukraine ist stetig besser ausgerüstet worden.

O’Brien oder Krugman: Beide haben sie statische Modelle, die vor allem im Nachhinein funktionieren. Man hat das Ergebnis, dann die Erklärung.

Wahrscheinlich trifft es Hannah Arendt besser, wenn sie sagt: Die Geschichte entwickelt sich nicht linear, sondern in Sprüngen fort – in einer Kette von Wundern.

Tatsächlich haben die entscheidenden Ereignisse – im Guten wie im Schlechten – fast immer die Expertinnen überrascht: der Fall der Berliner Mauer, der 11. September, der Arabische Frühling, das Smartphone, die Finanzkrise, Trumps Wahl, die Widerstands­kraft der Ukraine.

Der Grund für weltliche Wunder ist, so Arendt, die menschliche Freiheit. Jemand handelt, dann jemand anderer, dann weitere andere – und am Ende kommt etwas völlig Neues in die Welt.

Für die ukrainische Gegen­offensive haben unglaublich viele Menschen gehandelt: Amerikanische, britische, ukrainische Generäle feilten Monate an immer neuen Plänen. Hunderte, vielleicht Tausende transportierten das Material. Hunderte trainierten eine neue, schnelle Art der Kriegs­führung. Der von russischen Agenten durchsetzte ukrainische Geheimdienst schaffte es, die Operation geheim zu halten. Und weiss Gott, wie viele Soldaten ihr Leben dafür gaben.

Derart viel Geduld, Können, Arbeit, Erfindungs­kraft, Mut – wenn diese Operation kein Wunder ist, was dann?

Natürlich ist damit nichts gut.

Das Töten geht weiter – und seit der Gegen­offensive erscheinen noch mehr Todes­anzeigen von Opern­sängern, Ärztinnen, Musikern ... von Vätern, Müttern, Kindern, fast alle enden mit dem Satz: «Der Krieg nimmt die Besten.»

Und aus den befreiten Gebieten kommen die ersten Geschichten über Erschiessungen und Folter­kammern. Allein im Wald vor Isjum entdeckten die ukrainischen Behörden ein Massengrab mit über 400 Holz­kreuzen, die meisten nur nummeriert.

Und das wird nur der Anfang des Grauens sein. In der Polizei­station der nun befreiten Kleinstadt Balaklija drehten die Russen etwa die lärmige Belüftung ab, damit man die Schreie der Gefangenen besser hören konnte.

Dasselbe passiert in allen besetzen Gebieten. Eine frei gekommene Ärztin aus Mariupol berichtete, wie einer nach dem anderen ihrer Mitgefangenen starb: «Das Einzige, was sie vor ihrem Tod fühlen, ist Miss­handlung und weitere Schläge.»

Es ist ein ungeheurer Preis an Trauma und Tod, den die Ukraine für ihre Freiheit zahlt: etwa 10’000 tote Soldatinnen und Zehn­tausende Zivilisten, 7 Millionen auf der Flucht, über 200’000 nach Russland entführte Kinder.

Und es ist ein Preis, den die Ukrainerinnen auch für den Rest der Welt zahlen. Denn der Krieg der Ukraine zeigt so deutlich wie seit neunzig Jahren nicht, was eine totalitäre Regierung bedeutet: Respekt­losigkeit vor dem Leben, Stumpfheit, Verschwendung, bürokratische Dummheit, Lüge, ein lächerlicher Mann an der Spitze.

Und was dagegen zu tun ist: Mut, Entschlossenheit, Neugier, gutes Handwerk, Witz, Freundlichkeit, Erfindungskraft – Vertrauen in die Zukunft.

Was nicht dazugehört: das Anpassen, der Kompromiss, die Hoffnung auf den Status quo und die Mässigung der Autoritären. Verhandlungen sind sinnlos: Denn totalitäre Bewegungen stoppen vor nichts. Sie können nicht befriedet werden, nur besiegt.

Es ist Zeit, der Ukraine die Waffen zu liefern, die sie dazu braucht.

Klar passiert das nicht ohne Risiko. Gas­lieferstopp. Drohungen. Weiss der Teufel, was noch. Am Sonntag­abend bombardierte die russische Armee mit Langstrecken­raketen die Kraft- und Wasser­werke in der Region Charkiw. Sie investierte rund 100 Millionen Dollar, militärisch sinnlos, in Rache: an den dort wohnenden Zivilisten.

Der ukrainische Präsident Selenski antwortete:

Glaubt ihr immer noch, wir sind ein Volk? Glaubt ihr immer noch, ihr könnt uns ängstigen, zerbrechen, zu Konzessionen zwingen? Versteht ihr es noch immer nicht? Versteht ihr noch immer nicht, wer wir sind? Wofür wir stehen? Was wir wollen?

Hört mir zu: Ohne Benzin oder ohne euch? Ohne euch. Ohne elektrisches Licht oder ohne euch? Ohne euch. Ohne Wasser oder ohne euch? Ohne euch. Ohne Nahrung oder ohne euch? Ohne euch.

Kälte, Dunkelheit, Hunger und Durst sind nicht so erschreckend und todbringend wie eure Freundschaft und eure Brüderlichkeit. Aber die Geschichte wird es richten: Wir werden alles haben, Benzin, Licht, Wasser, Nahrung ... ohne euch!

Tradition

In der Nacht darauf schlugen sieben oder acht russische Raketen in die grosse Staumauer bei Krywyi Rih ein – Selenskis Heimatstadt. Der Schaden hielt sich in Grenzen. Trotzdem wurden über 100 Häuser überflutet.

Im russischen Fernsehen kommentierte ein Militär­experte, es sei nun Zeit, die Ukraine «in Dunkelheit zu versetzen» – und systematisch die zivile Infra­struktur zu bombardieren. Mit dem Ziel von 20 Millionen Flüchtlingen in Europa bis Dezember.

Ein Kriegsbeobachter ergänzte auf Twitter, dass es noch ein zweites Motiv für den Anschlag gab: die Hoffnung, damit weiter unten am Fluss die Ponton­brücken der ukrainischen Armee wegzuschwemmen. Und somit den Angriff auf das eingekesselte Cherson zu verzögern.

Damit folgte die russische Armee ein weiteres Mal der Tradition. Im August 1941 sprengten Stalins Geheim­agenten den Staudamm bei Saporischschja, um den Vormarsch der Wehrmacht zu verzögern. Die Flutwelle rollte den Dnipro hinunter und tötete nach Schätzungen von Historikern zwischen 20’000 und 100’000 Ukrainer.

Egal, was es kostet. Es ist Zeit, diese Tradition zu beenden.

Wo wir geschrieben haben, dass die ukrainische Armee die «sowjetische» Artillerie bekämpft, war natürlich die russische Artillerie gemeint. Das ist angepasst, vielen Dank für den Hinweis aus der Leserschaft.

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